Mutmaßlicher Unruhestifter aus Rottweil-Altstadt: Fall für Fall vor Gericht
Tag zwei in der Berufungsverhandlung gegen einen heute 52-jährigen mutmaßlichen notorischen Unruhestifter aus Rottweil-Altstadt. Einen Mann, der sich gegen ein Hafturteil des Amtsgerichts wehrt. Seine vielen Fälle, in denen er Menschen beleidigt und bedroht haben soll, werden vor dem Landgericht Rottweil erneut aufgerollt. Fall für Fall, Zeuge für Zeuge. Die Mühlen der Justiz mahlen.
10 Uhr. Mit einem vernehmlichen „Morgen“ betritt Y. den „Civilkammersaal“. In derselben Kleidung wie von vergangener Woche, in seinem Verhandlungsoutfit. Als Gefängnisinsasse wird man nicht die große Auswahl haben. Da begnügt man sich mit Bewährtem. Lächelnd betritt der Richter den Saal, nachdem er von der Urkundsbeamtin – früher hätte man sie wohl „Protokollantin“ genannt – über die Anwesenheit aller notwendigen Verfahrensteilnehmer informiert worden war. Der Vorsitzende Richter am Landgericht scheint sich auf die Verhandlung zu freuen. Sein Lächeln, das er reihum in den Saal sendet, wirkt jungenhaft. Und das, obwohl das Gericht zuletzt alle Hände voll zu tun hatte, die Zeuginnen und Zeugen in den Prozess zu bekommen. Urlaub, Krankheit, individuelle Gründe machen Verschiebungen der Termine nötig. Den Angeklagten, den 52-jährigen Y. lässt das unbeeindruckt. Er scheint ja zu den Menschen zu gehören, die es genießen, wenn sie im Mittelpunkt stehen, sich alles um sie dreht, und sei es ein Prozess wegen vielfacher Beleidigung und Bedrohung.
10.10 Uhr. Es wird wieder ein Tag der Schimpfwörter. Die Verhandlung läuft keine zehn Minuten, der erste Zeuge ist noch in seiner ersten Zusammenfassung, da fällt „Ar..“, „Wich…“, „Spinner“, „Drecksau“ und so weiter. Zitate der Worte, mit denen Y. den Zeugen, einen Streifenpolizisten, beleidigt haben soll. Ansatzlos. Samt dem Mittelfinger, im Spätsommer 2023 sei das gewesen. Eines von zig Beispielen, die zu Strafanträgen beziehungsweise -anzeigen geführt haben, wegen derer Y. nun vor Gericht sitzt. Weiterhin in Fußfesseln, da er sich in Untersuchungshaft befindet wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Zwei Justizbeamte bewachen ihn.
10.15 Uhr. Mangels Zeugen versucht der Vorsitzende Richter, eine entstehende Pause zu füllen. Eher pro forma fragt er Y., ob er Angaben zur Person machen wolle, also seine Lebensgeschichte erzählen. Zur Überraschung des Richters und weiterer Prozessbeteiligter sagt Y. „Ja“. Und erzählt, beziehungsweise lässt sich zu den Stationen seines Lebens befragen. Geburt in Rottweil, Kindergarten, Hauptschule, Mittlere Reife an der Wirtschaftsschule, Kurzanstellung bei der Post, Kurzanstellung im „Rottenmünster“, unterbrochen vom Wehrdienst. Wie lange? 15 oder 18 Monate, er weiß es nicht mehr so genau. Ist lange her. 15 werden es gewesen sein. Erst im Oktober 1990 wurde der Wehrdienst auf 12 Monate verkürzt.
10.20 Uhr. Spontaner Szenenwechsel, der Zeuge von vorhin ist noch einmal da. Er hatte den Saal schon verlassen, wurde erneut hereingebeten. Er soll noch zu einem anderen der vielen, vielen Fälle aussagen, das war dem Richter entgangen, darauf wies der Staatsanwalt hin. Y. nutzt die Gelegenheit, den Polizisten dazu zu befragen, warum er, Y., immer im Mittelpunkt der Ermittlungen stehe, warum die Polizei diese einseitig gegen ihn führe. Das weist der Beamte zurück, „wir ermitteln grundsätzlich in alle Richtungen“, er verlasse sich zudem auf Zeugenaussagen, die ja in Y.s Fall zuhauf vorliegen.
10.25 Uhr. Der 52-Jährige weist erneut darauf hin, dass er allenthalben provoziert werde, auch von Polizeibeamten. Der Richter kontert, erstmals mit erkennbarer leichter Ungeduld: „Und wenn das so wäre, wenn Polizisten etwas auf Ihr Grundstück legen, selbst wenn sie Müll auf ihr Grundstück legen würden, selbst wenn sie diesen anzünden würden, berechtigt Sie das nicht, die Beamten zu beschimpfen oder zu beleidigen.“ Es gebe für solche Fälle den Verwaltungsrechtsweg oder die Untätigkeitsklage. „Oder Sie können sich an die Staatsanwaltschaft wenden“, so der Richter. „Aber Sie können niemanden beschimpfen.“ Das lässt Y. vollkommen kalt. In seiner Replik wirft er der Staatsanwaltschaft wiederum vor, seine Anzeigen gegen andere einzustellen, während nur die gegen ihn verfolgt würden. „Das ist alles ein bisschen seltsam“, raunt er mit wissendem Blick und verschränkten Armen.
Y. lebt, das wurde schon in der Verhandlung vor dem Amtsgericht vergangenes Jahr und am ersten Prozesstag in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht deutlich, in einer wohl etwas kindlichen Welt des „Der hat aber angefangen.“ Er fühlt sich provoziert, unverstanden, nicht ernst genommen. Und sieht sich daher berechtigt, zurückzuschlagen, in Form von Rundumschlägen. Er scheint den Kampf gegen seine Mitmenschen – Nachbarn, Staatsvertreter – zu seinem Lebenszweck erklärt zu haben. Und an ereignislosen Tagen scheint er sogar aus Langeweile heraus Streit und Unruhe anzuzetteln, so eine Feststellung des psychiatrischen Sachverständigen. Oder aus einer vermeintlichen Mücke einen Elefanten zu machen. So wird trotz aller juristischen Bemühungen heraus wohl nie geklärt werden, wer beispielsweise einen kleinen Haufen Müll auf sein Grundstück gelegt hat. Einen kleinen Haufen, den andere Menschen wohl einfach wegräumen, von dem sie sich nicht provoziert fühlen würden. Y. neigt dagegen dazu, so etwas zu einer Affäre aufzubauen.
Sich so ausführlich mit dem 52-jährigen, mutmaßlichen notorischen Unruhestifter zu beschäftigen, als Gericht mit einem Berufs- und zwei Laienrichtern, dreien Justizbeamten, einem Rechts- und einem Staatsanwalt, einem Sachverständigen und zig Zeugen, das sehen manche Leute als übertrieben an. Dem grundsätzlichen Rechtsstaatsprinzip der Unschuldsvermutung zum Trotz sagen sie, dass „so einer“ doch „weggesperrt“ gehöre. Doch weil es dafür Regeln gibt, sitzt Y. nun eben erneut auf der Anklagebank, wird Beleidigung für Beleidigung, Bedrohung für Bedrohung erneut aufgerollt. Immerhin kommt er dazu aus dem Knast, immerhin hat die Staatsmacht ihm schon Zähne gezeigt. Und diese Berufungsverhandlung könnte zu einer Bestätigung des amtsgerichtlichen Hafturteils führen.
10.58 Uhr. Es kommt ein Notruf aus dem Mai 2023 zur Verlesung. Y. erzählt darin, eine Frau B. von der Firma Ö. habe sich in ihn verliebt, rufe ihn aber nicht an und traue sich auch nicht auf sein Grundstück. „Das hat nichts zu tun mit der Polizei“, hält ihm der Beamte, ein Polizeioberkommissar, entgegen. Es kommt allmählich zum Streit. Der endet unvermittelt in wüsten Beleidigungen („Sie sind ein Ar…, Ar…, Ar“). Der Beamte empfindet das auch heute, bald zwei Jahre später, als „unangemessen“, weshalb er Strafantrag gestellt hatte. „Ich habe mich bemüht, dem Mann zu helfen“, gibt er noch zu Protokoll. Y. wiederum bestreitet, eine Frau B. zu kennen, weshalb der Notruf an sich ja schon keinen Sinn ergebe. Aufgezeichnet wurde er dennoch. Getätigt von seiner Nummer unter Angabe seines Namens. Klingt komisch? Ist es auch.
11.30 Uhr. Nach einer Sitzungspause erscheint der nächste Zeuge. Ein junger Polizeihauptkommissar, der als Streifenbeamter im April 2023 wegen einer brennenden Mülltonne an Y.s Haus im Einsatz war. Jenem Haus in der Vogelsangstraße in Rottweil, an dem es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Einsätzen von Polizei und Feuerwehr gekommen ist. Zu zig Einsätzen. Auffallend: Seitdem Y. in der Justizvollzugsanstalt Villingen-Schwenningen in Untersuchungshaft sitzt, ist die Ecke eine der ruhigsten in der Stadt. Das fiel etwa dem Richter auf. „Bei Ihnen in der Nachbarschaft hat es verhältnismäßig oft gebrannt“, stellte er am ersten Verhandlungstag fest. „Es wäre gut für Sie gewesen, wenn es weiter dort gebrannt hätte, aber es ist ja nichts mehr passiert, seit Sie in Haft sind.“ Dem konnte Y. bisher nichts entgegensetzen.
Jedenfalls: Der Polizeibeamte verweist als Zeuge auf ein Video, das Y. zeigen soll, wie er etwas in die Mülltonne getan habe, aus der dann Flammen drangen. Im Notruf dazu, der wie üblich protokolliert wurde, sagte Y. damals, er sei „nur kurz auf Toilette gewesen“, da habe er Rauch gerochen. Als wolle er gleich sein Alibi mitliefern. Weil ihm seinerzeit eine Vielzahl an Zündeleien unterstellt wurde, bei denen er geschickt vorgegangen und dadurch unerkannt geblieben sei, hatten die Nachbarn Kameras an ihren Gebäuden installiert, filmten auch spontan mit ihren Handys. Sie wollten den Brand- und Unruhestifter in flagranti erwischen. Y. sieht sich dagegen zu Unrecht beschuldigt, hat Anzeige erstattet, wie er sagt. Der Beamte allerdings will ihn „dadurch, dass ich schon oft mit ihm zu tun hatte“, eindeutig identifiziert haben.
Y. kämpft unterdessen weiter mit allen und gegen alle. In seinen Handschließen und Fußfesseln schnauzt er die Justizwachtmeister an. „Das kann man auch normal sagen!“, fordert er seine Rechte ein. Und solange die Presse im Saal sitzt, will er keine weiteren Angaben zu seinem Lebenslauf – beispielsweise Verdienst, etwaige Krankheiten – machen. Da es nicht immer nach Y.s Kopf geht, folgt hier also nichts mehr dazu.
Doch so wird, wie beschrieben, Fall für Fall vor Gericht erneut aufgerollt. Aus der Gesamtschau wird das Strafgericht dann sein Urteil bilden. Höher als das vom Amtsgericht kann es nicht ausfallen, da die Staatsanwaltschaft nicht in Berufung gegangen ist, nur der Angeklagte. Die erstinzanzliche Strafe: ein Jahr und zehn Monate Haft ohne Bewährung. Am 13. Februar soll das Urteil fallen, vorher sind zwei weitere Verhandlungstage eingeplant.